Dyskalkulie / Rechenschwäche

Ein Fallbeispiel von Eltern beschrieben

Eine Lehrerin schreibt uns:

Das Zeugnis des Kindes zeigt, dass es sich um eine isolierte Schwäche (im Gegensatz zu kombinierten Störungen schulischer Fertigkeiten) handelt:

Die Zeugnisnote als Indiz für eine vorliegende Rechenschwäche zu nehmen, ist jedoch mit Vorsicht zu werten; sie hat allenfalls den Charakter eines Hinweises. Oft kompensieren rechenschwache Kinder ihr Unvermögen mit enormen Gedächtnisleistungen, beherrschen rein schematische Rechenstrategien und gelangen so auch einmal zu einem "befriedigend".

FORTSETZUNG:

Im Zeugnis finden sich unter der Rubrik "Hinweise zu Lernbereichen/ Fächern" zahlreiche Symptome (siehe unsere Symptomliste):

Die Mutter des Kindes wendet sich an unser Zentrum. Im Elternfragebogen gibt sie an:

In vielen Fällen bleibt es bei den Kindern nicht bei der Rechenschwäche, sondern es treten Verhaltensauffälligkeiten mit psychosomatischen Reaktionen hinzu:

In unserer Diagnostik soll die Schülerin eine Geschichte zu der Aufgabe 4+3 finden und anschließend eine Frage, eine Rechnung und eine Antwort formulieren:

Zur weiteren Aufklärung wird das Kind in einer Klinik vorgestellt:

Die Schule wurde nochmals um eine Stellungnahme gebeten:

Nach fast 2 Jahren Therapie hat es M. fast geschafft. Sie schreibt ihrer Therapeutin:

Ein Nachmittag im Leben eines rechenschwachen Kindes

An einem „einfachen” Beispiel, wie es von Eltern und Kindern immer wieder geschildert wird, wollen wir einmal darstellen, mit welchen Schwierigkeiten, Erklärungsnöten und Ungereimtheiten ein rechenschwaches Kind zu tun hat.

Das Kind (wir nennen es Maren) soll seine Hausaufgaben in Mathe erledigen. Maren ist im Förderunterricht und bekommt Aufgaben zum Üben, die normalerweise von Kindern gegen Ende des zweiten Schuljahres gelöst werden sollen. Die Mutter sitzt wie üblich daneben und versucht ihrer Tochter, so gut es geht, zu helfen.

Die erste Aufgabe lautet:

25 + 18 = ?

Ein scheinbar nicht allzu schwer bewältigbares Problem.

Maren fängt an zu 'rechnen'. Da sie über keinen korrekten Zahlbegriff verfügt, kompensiert sie ihr völliges Unverständnis durch das Abzählen einer auswendig gelernten Zahlenreihe. Für Maren stellt sich die Aufgabe folgendermaßen dar:

Ich soll von der 25 aus hochzählen (wegen dem plus), und zwar genau 18 Stück.

Die Aufgabe soll ohne Fingerhilfe gelöst werden, schließlich ist das Kind ja bereits in der dritten Klasse. Maren erinnert sich an eine ihrer ersten Regeln, die sie in der ersten Klasse gelernt hat.

Da steht zwar, dass ich bei der 25 anfangen soll zu zählen, aber in Wirklichkeit meinen die (Erwachsenen) bei Plusaufgaben die 26!

Eine Regel, die nicht selten bei Erstklässlern, sehr wohl logisch durchdacht, zu einer Beschwerde führt: Denn wenn Rechnen nichts anderes ist, als Auf- bzw. Abwärtszählen, dann gibt mir die erste Zahl an, wo man anfangen muss zu zählen, das Rechenzeichen, ob auf- bzw. abwärts gezählt wird, und die zweite Zahl, wie viel gezählt werden soll. Das hieraus folgerichtige Ergebnis der Aufgabe 4 + 3 ist dann die 6 (Verzähler um 1, s. o.). Auf den Einwand der Mutter, dass man hier bei 5 anfangen muss, lautet die wiederum vom Kind aus gesehene logische Beschwerde: “Warum schreibt ihr das eigentlich nicht sofort hin? Das find' ich doof!“
Aber wenden wir uns jetzt wieder Maren und ihrer Mutter zu.

FORTSETZUNG:

Maren beginnt die Aufgabe zählend zu lösen. Dabei schaut das Kind scheinbar geistesabwesend aus dem Fenster. Das und die Tatsache, dass das Mädchen wieder einmal ewig braucht, verleitet die Mutter zur Mahnung:

“Maren, Du sollst das doch ausrechnen! Nun konzentriere Dich doch mal!“

Woraufhin sich das Kind fürchterlich beklagt, dass es erstens beim Rechnen wäre und zweitens nicht gestört werden wolle, weil es jetzt noch einmal alles neu rechnen müsse.

Marens Widerspruch ist vollkommen zu Recht erfolgt. Sie war gerade dabei, von der 25 aus hochzuzählen und ist zunächst einmal beim Zehner-Übergang hängen geblieben. Was kommt da noch mal für eine Zahl nach der 29? Um dieses Problem zu lösen, zählt das Kind die 10er-Reihe hoch: 10, 20, 30, - Also jetzt kommt die 30. Bei dieser Überlegung ist dem Kind jedoch entfallen, wie viel es vorher eigentlich schon hochgezählt hatte, und eine Kontrolle mit den Fingern ist ja nicht gestattet. Also muss ich mir die Finger vorstellen! Rechenschwache Kinder nennen dieses Kontrollinstrument “Luftfinger“, wobei das Material durchaus wechseln kann, je nachdem, womit in der Schule gerade gerechnet wird (Zahlenstrahl, Hundertertafel etc.). Um dieses Bild der Finger vor dem geistigen Auge zu haben (und es werden ja immerhin 18 Stück!), schaut das Kind aus dem Fenster in den Himmel, um eine möglichst monochrome Fläche vorzufinden (manche Kinder schließen auch die Augen oder starren zur Decke). Maren beginnt also jetzt die Aufgabe erneut zählend zu lösen, schafft dann auch schneller den Zehnerübergang, und dann kommt die Mahnung der Mutter! Das Bild der Finger verschwindet, das Mädchen weiss; nicht mehr, bei welcher Zahl es gerade war, und muss wieder von vorne anfangen; alle Anstrengung und alle Konzentration waren umsonst, nur weil Mama mich nicht rechnen läßt und mich immer stört!

Im weiteren Verlauf bemüht sich die Mutter um Geduld, und Maren versucht erneut, die Aufgabe zu lösen. Diesmal mit Hilfe der Finger, damit es erstens nicht so schwer ist, zweitens schneller geht und Mutti dann nicht wieder unterbrechen kann. Dafür müssen die Finger natürlich unter dem Tisch versteckt werden.

Leider hat Maren hier die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Diese 'Tricks' sind der von ständiger erfolgloser Überei nervlich angeschlagenen Mutter natürlich wohl bekannt, so dass auch der dritte Versuch Marens, die Aufgabe zu lösen, mit der Bemerkung, dass sie es doch bitte ohne Finger versuchen solle, ein vorzeitiges Ende findet. Inzwischen sind bereits 5 Minuten vergangen, und noch keine einzige von den 20 Aufgaben wurde gelöst; und zum Schluß ist da ja auch noch die Textaufgabe, und die kann Maren überhaupt nicht. Die erste vorsichtige Hochrechnung der Mutter kommt auf 2 Stunden und das nur für Mathe! Also muss hier schleunigst eine Hilfestellung gegeben werden, damit der Nachmittag nicht schon wieder mit Tränen endet.

“Maren, rechne doch erst einmal 25 + 5!“

Maren ist über dieses Anliegen im höchsten Maße verwundert. Die Hausaufgabe hieß doch 25 plus 18, und hatte die Mutti nicht seit geraumer Zeit darauf bestanden, dass sie diese Aufgabe auch lösen soll?! Maren fragt nach:

“Warum soll ich denn die Aufgabe 25 + 5 rechnen; die ist doch gar nicht bei den Hausaufgaben?“

Die Antwort der Mutter sorgt bei Maren für völlige Konfusion:

“Weil du erst einmal zum nächsten vollen Zehner rechnen sollst!“

Sicherlich kennen leidgeprüfte Mütter Fehler ihrer Kinder bei Sachaufgaben, wo die Antwort nicht zur Frage paßt. Dieses Mal ist es aber so, dass die Mutter keine Antwort auf die Frage des Kindes gegeben hat, dies aber trotzdem glaubt. Maren und ihre Mutter reden also völlig aneinander vorbei.

Maren hat eigentlich eine sehr einfache Frage gestellt. Sie wollte wissen, warum sie eine Aufgabe, die nicht zu den Hausaufgaben gehört, eigentlich rechnen soll. Daraus ist zunächst einmal der Schluß zu ziehen, dass das Kind zwischen den beiden Aufgaben keinerlei Zusammenhang erkennt. Diesen Zusammenhang unterstellt die Mutter bei Maren aber als begriffen und argumentiert dementsprechend weiter mit einer Rechenstrategie, und diese Antwort hat mit Marens Frage nun wirklich nichts zu tun.

Die Mutter versucht, Maren eine weitere Hilfestellung zu geben:

“Kannst Du mir denn sagen, welcher volle Zehner das ist?“

Kann Maren natürlich nicht! Sie weiß, dass ein Waßerglas oder eine Mülltonne voll sein können, aber eine volle 10, das kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen! Die Mutter erkennt, dass das Kind offensichtlich Schwierigkeiten hat, den vollen Zehner zu benennen. Sie versucht es mit einer “Erklärung“:

“10, 20, 30, 40, 50 usw., das sind alles volle Zehner!“

Maren ist erstaunt! Die 10 ist also gleichzeitig auch 20 und 30 und 40 und 50! Und was soll überhaupt das 'und so weiter'?

Inzwischen sind 10 Minuten vergangen, ohne dass auch nur ansatzweise eine Lösung der ersten Aufgabe gefunden wurde. Ganz im Gegenteil merkt die Mutter, dass Maren auch “einfachste Erklärungen“ nicht versteht. Also gibt sie die bisherige Linie auf und fordert das Kind auf, doch erst einmal 25 + 5 zu rechnen, nach dem Motto, dass der Rest sich schon ergeben wird und der Groschen bei dem Kind dann fällt.

Maren sieht zwar überhaupt nicht ein, dass sie eine Aufgabe rechnen soll, die nicht zu den Hausaufgaben gehört, aber sie gibt dem Drängen der Mutter schließlich nach.

Maren zählt von 25 aus 5 Zahlen hoch, der Zehnerübergang gelingt, das Ergebnis lautet 30. Der vorsichtige Blick des Mädchens in die sich aufhellende Miene der Mutter signalisiert ihr, dass das Ergebnis paßt. Die Mutter macht Maren Mut:

“Siehst Du, das ist doch viel einfacher!“

Nun, das ist Maren auch nicht entgangen: 25 + 5 ist natürlich einfacher als 25 + 18, denkt sich Maren noch, als die nächste Frage der Mutter folgt:

“Was musst du denn nun rechnen?“

Maren denkt an ihre Hausaufgaben und folgerichtig lautet die Antwort:

“25 + 18“, wobei Maren erwartungsvoll die Mutter anschaut.

Die ist mit ihrer Antwort aber überhaupt nicht zufrieden; ganz im Gegenteil:

“Aber Maren! Hast du überhaupt einmal genau hingeschaut, was wir gerechnet haben?“

Maren blickt in ihr Heft. Dort steht:

25 + 18 =
25 + 5 = 30

und antwortet der Mutter:

“25 + 5 = 30“

“Richtig“, meint die Mutter und fährt fort: “Also (?!?) müssen wir jetzt mit der 30 weiterrechnen!“

Das Mädchen gibt es auf, dem Gedanken der Mutter zu folgen.

Mama hat also gesagt, dass jetzt mit der 30 weitergerechnet werden soll Und weil es schließlich eine Addition ist, probiert es Maren mit der Antwort:

“Plus 30!“

Der barscher werdende Ton der Mutter, deren Geduld sich langsam dem Ende neigt, führt bei Maren zu den ersten Tränen:

“Maren, du denkst ja gar nicht nach! Du rätst ja nur!“

Ersteres Urteil entbehrt jeder Grundlage, während das zweite durchaus seine Berechtigung hat, wobei es aber eben nicht ein wildes Raten ist, sondern durchaus zielgerichtet auf die “Erklärungen“ der Mutter abgestimmt ist.

Um die Situation nicht weiter eskalieren zu laßen, sagt die Mutter den nächsten Rechenschritt vor:

“Schreib' doch jetzt einmal die nächste Aufgabe hin! 30 + 3! Was kommt da denn raus?“

Maren tut, was ihr die Mutter gesagt hat und rechnet auch das richtige Ergebnis (33) aus, auch wenn es nicht die Hausaufgaben sind. Das Lob der Mutter bestätigt sie in ihrer Strategie, nicht noch einmal nachzufragen, weil die Mutter dann wieder schimpft.

“Prima Maren, das hast du richtig gemacht!“

Die Mutter bezweifelt jedoch (zu Recht), dass Maren den Rechenweg verstanden hat, und faßt noch einmal zusammen:

“Wir haben doch jetzt 8 - 5 gerechnet und das ist 3; und weil wir schon bei 30 angekommen sind, müssen wir jetzt 30 + 3 rechnen, weil das der Rest von der 8 ist, die wir ja plus rechnen müssen; so geht das viel schneller!“

Maren ist einigermaßen faßungslos. Das mit dem viel schneller kann die Mutti ja wohl nicht ernsthaft meinen. Dürfte ich mit den Fingern rechnen und müsste ich nicht laufend zusätzliche Aufgaben lösen, ich wäre mit den Hausaufgaben schon viel weiter. Aber noch viel rätselhafter ist, warum wir (?!?) die Aufgabe 8 - 5 = 3 gerechnet haben sollen; die steht nirgendwo im Heft, und von wir kann nun wirklich nicht die Rede sein, bestenfalls Mutti hat das gerechnet. Eine Minus-Aufgabe, obwohl doch plus gerechnet werden soll! Schimpft Mutti nicht immer, wenn ich statt minus plus rechne?! Und jetzt macht sie es selber. Und das mit dem Rest ist auch so komisch. Den gibt es doch nur bei Geteilt-Aufgaben!

Maren beschließt, aufgrund der vielen Ungereimtheiten nachzufragen: “Warum soll ich das denn alles rechnen?“

Die Antwort der Mutter sorgt für neue Tränen:

“Weil das so doch alles ganz einfach ist, findest du nicht?!“

Nein, das findet Maren wirklich überhaupt nicht. Und dann ist da schon wieder der Satz, dass immer alles ganz einfach ist, denkt sich Maren. Den hat sie schon tausendmal gehört. Das sagt auch immer die Lehrerin und auch die anderen Kinder; selbst der Thomas, und der ist doch sonst viel schlechter in der Schule als ich. Und alle sagen immer, ich soll fleißig üben, dann wird es schon besser. Das hilft bei mir nicht, weil ich einfach zu dumm bin; das hat auch schon mal der Papa gesagt. Aber vielleicht bin ich ja auch wirklich krank im Kopf; schließlich war die Mutti mit mir deswegen schon beim Arzt und auch im Krankenhaus, und in der Schule haben sie auch schon einen Test gemacht.

Der Mutter gelingt es schließlich, das Mädchen zu beruhigen. Als Maren sich gefangen hat, macht die Mutter den Vorschlag, einfach ins Heft zu schreiben, dass sie (Maren) die Hausaufgaben nicht verstanden hätte, damit die Lehrerin ihr noch mal alles erklären könne. Aber ohne Hausaufgaben will Maren auf keinen Fall in die Schule gehen, denn:

“Dann sehen alle wieder, dass ich zu doof bin!“

Die Mutter dementiert energisch und macht ihrer Tochter Mut. Das hat Maren auch schon tausendmal gehört, und ein Blick des Mädchens auf das immer noch so gut wie weiße Blatt ihres Haushefts spricht ja wohl Bände.

Nach 20 Minuten fällt die Bilanz in der Tat ziemlich verheerend aus. Im Heft steht:

25 + 18 =
25 + 5 = 30
30 + 3 = 33

Maren ist, was die mathematischen “Erklärungen“ angeht, vollends verwirrt, ihr Selbstwertgefühl hat einmal wieder den absoluten Nullpunkt erreicht, und die Verabredung mit ihrer Freundin kann sie sowieso vergeßen. So ist das fast immer, wenn Mathe-Hausaufgaben anstehen. Die Mutter ist mit ihren Nerven am Ende; sie weiß sich nicht mehr zu helfen, meint, dass man “einfacher“ nun doch wirklich nicht “erklären“ könne. Das mit der “ausgerutschten Hand“ ist ihr zwar bis jetzt noch nicht paßiert, aber irgendwie muss es doch an dem mangelnden Willen ihrer Tochter liegen. Schließlich hat man doch alles getan! Ein Jahr Nachhilfe, Erfolg gleich Null; das EEG war ohne Befund, und auch die Lehrerin meinte, dass Maren kein Kind für die Sonderschule sei. Sie versucht es weiter mit der “Erklärung“ des nächsten Rechenschritts.

“So, Maren. Wir haben jetzt die 8 plus gerechnet. Die ist also (?!?) schon mal weg (???). Jetzt ist da noch die 1. Was musst du denn jetzt noch rechnen?“ (Die Mutter deutet auf die Zehnerstelle der Zahl 18.)

Maren denkt angestrengt nach:

“Mutti hat gesagt, dass wir die 8 plus gerechnet haben und wir sie deshalb minus gerechnet haben, weil sie ja schon weg ist. Jetzt soll ich was mit der 1 machen, und davor steht ein +!

“Plus 1!“, lautet Marens Antwort.

Die Mutter hätte auch auf jede andere Zahl deuten können, Maren hätte sie sofort als die zu addierende Zahl benannt.

Die Mutter nimmt die Antwort wohlwollend auf und fragt weiter nach:

“Fast richtig, Maren. Aber schau mal, die 1 steht vor der 8, die ja schon fertig plus gerechnet ist. Deswegen (???) ist die 1 ein ...“

'Zehner' wollte Marens Mutter hören. Das rettende Wort bleibt natürlich aus, weil das Mädchen das dekadische Positionssystem auch in Ansätzen nicht verstanden hat.

Eine weitere “Hilfestellung“ der Mutter folgt:

“Also, wenn die 8 schon weg ist, dann bleibt bei den Einern eine Null, und dann steht da die Zahl 10.“

Maren weiß zwar nicht, was ihre Mutter da erklärt hat, aber sie probiert es mal mit der Zahl 10 aus:

“Plus 10!“

“Richtig“, kommt die erlösende Antwort der Mutter. Das aber immer noch ratlose Gesicht ihrer Tochter läßt sie zu dem Schluß kommen, den nächsten Rechenschritt zu diktieren:

“Wir schreiben also (?!?) jetzt auf 33 + 10 = und rechnen das jetzt aus!“

Aufgabe Nr. 3 steht jetzt im Heft, die nichts mit den Hausaufgaben zu tun hat. Maren zählt aufwärts, stockt wieder beim Zehnerübergang und gelangt schließlich doch zur Zahl 43. Im Heft steht jetzt:

25 + 18 =
25 + 5 = 30
30 + 3 = 33
33 + 10 = 43

Die Mutter ist erleichtert. Endlich ist die erste Aufgabe fertig! Da hat sich die Mutter allerdings gründlich geirrt. Und auch die Annahme, dass die restlichen Aufgaben jetzt schneller durchgerechnet werden, wird sich nicht bewahrheiten. Die Mutter stellt die nächste Frage:

“Was kommt denn jetzt bei 25 plus 18 als Ergebnis raus?“

Maren schaut aus dem Fenster und beginnt zu “rechnen“. Die Mutter ist faßungslos:

“Aber Maren, das haben wir doch gerade ausgerechnet!“

Das Mädchen schaut in sein Heft. Drei Aufgaben sind bisher gerechnet worden: Aber die Aufgabe 25 + 18 ist noch nicht dabei. Maren weiß nicht, was sie sagen soll, da folgt bereits der nächste Hinweis der Mutter:

“Maren, schau doch mal hin! Das Ergebnis steht doch schon da!“

Maren schaut sich die Aufgabe 25 + 18 noch einmal genau an.

“Aber da steht doch noch kein Ergebnis!“ protestiert das Mädchen.

Der Protest von Maren fällt jedoch nicht auf fruchtbaren Boden:

“Du schaust ja auch auf die ganz falsche Aufgabe! Da unten steht doch, dass 33 + 10 = 43 ist. Also (?!?) ist das Ergebnis 43!“

Das findet Maren allerdings überhaupt nicht einleuchtend.

Wenn ich das Ergebnis der Aufgabe 25 + 18 wissen will, muss man auf die Aufgabe 33 + 10 schauen. Das würde ja bedeuten, dass ich 33 + 10 rechnen muss, um herauszubekommen, welches Ergebnis bei 25 + 18 das richtige ist. Aber woran erkenne ich überhaupt, dass man bei 25 + 18 die Aufgabe 33 + 10 rechnen muss; da ist ja überhaupt keine Zahl gleich? Und welche Aufgabe muss ich bei der nächsten Rechnung nehmen?

Die Mutter verläßt die bisherige Erklärungßchiene und versucht es mit einem Rechenschema:

“Wir können die Aufgabe auch so rechnen. Zuerst rechnest du die Zehner zusammen und dann die Einer.“

Da die Mutter weiß, dass Maren ständig Zehner und Einer einer Zahl verwechselt, schiebt sie den nächsten “Tip“ gleich nach:

“Also musst du von den Zahlen 25 und 18 die 2 und die 1 und die 5 und die 8 zusammenrechnen, weil (?!?) du ja keine Äpfel und Birnen zusammenrechnen kannst!“

Was Äpfel und Birnen mit Zehnern und Einern zu tun haben, versteht Maren nicht. Den Trick mit den Zehnern und Einern hat Maren allerdings schon öfters gehört. Sie befolgt den Tip der Mutter und schreibt nach einer Weile das Ergebnis hin:

25 + 18 = 313

Mit diesem Ergebnis reißt nun endgültig der Geduldsfaden der Mutter.

“Hast du denn nicht hingehört, was du rechnen sollst? Das sieht man doch sofort, dass das falsch ist. 20 + 10 ist doch nur 30, und du bekommst über 300 raus!“

Das Mädchen bricht erneut in Tränen aus. Schließlich hat es doch genau hingehört und auch das gerechnet, was die Mutter gesagt hat: 2+1=3 und 5+8=13, und das Ergebnis hat sie auch hingeschrieben. Und überhaupt, die Aufgabe 20 + 10 steht nirgends im Heft. Wie kann man denn dann sehen, dass das falsch ist?

Nach einer Weile hat die Mutter sich wieder beruhigt. Um dem Drama ein Ende zu bereiten, entschließt sich die Mutter zur letzten Lösungßtrategie: vorsagen! Geschlagene 2 Stunden später sind die Mathe-Hausaufgaben fertig (wie Maren und ihre Mutter auch) - wäre da nicht noch die Textaufgabe. Aber das schafft die Mutter nicht mehr; erstens hat sie auch noch andere Dinge zu tun, und zweitens ist sie mit ihrem Latein völlig am Ende. Da muss halt der Papa ran!

Maren zeigt ihrem Vater die Aufgabe.

Sie lautet:

Herr Meier fährt in den Supermarkt und kauft 3 Kisten Mineralwaßer. In jeder Kiste sind 12 Flaschen.

Der Vater macht Maren Mut:

“Versuch' es doch einmal alleine. Das ist gar nicht so schwer. Wenn du fertig bist, zeigst du mir dein Ergebnis.“

Maren rechnet die Sachaufgabe aus und präsentiert dem Vater ihre Lösung. Der Kommentar des Vaters sorgt erneut für Tränen: “Jetzt gehst du morgen in die Schule und sagst deiner Lehrerin, dass du zum Rechnen einfach zu dumm bist!“

In Marens Heft steht:

Frage: Wie viel muss Herr Meier insgesamt bezahlen?
Rechnung: 12 + 3 = 15
Antwort: Es kostet zusammen 15 Euro.

Zumindest hat die Quälerei für Maren heute ein Ende. Seit nun 3 Jahren geht das so fast jeden Nachmittag, und zu guter Letzt streiten sich darüber dann auch noch der Vater und die Mutter.

Mathematischer Bereich

Bei den folgenden Auffälligkeiten mögen Eltern, Lehrer und andere beteiligten Personen in ihrer Beurteilung eher vorsichtig sein: Zum einen sind hier nur einige Symptome exemplarisch aufgeführt, zum anderen müssen nicht immer alle Auffälligkeiten zutreffen; findet man nur wenige Übereinstimmungen, lässt dies noch lange nicht auf eine Rechenschwäche schließen! Sieht es jedoch so aus, dass eine Vielzahl der angeführten Punkte zutreffen, raten wir dringend zu einer genaueren Untersuchung, zumindest aber zu einem klärenden Gespräch mit der Lehrkraft, schulpsychologischen oder anderen Beratungsstellen.

Das Kind

  • kann sich nicht vom Rechnen mit den Fingern lösen
  • zählt nur, statt zu rechnen
  • verrechnet sich häufig um 1
  • vermeidet auffällig Minus-(Geteilt-)Aufgaben
  • kann nur mit Hilfe von Gegenständen rechnen
  • verwechselt die Rechenarten
  • tut sich schwer bei "Wieviel"-Aufgaben (7+?=15)
  • findet bei ?+6=13 keine Lösung
  • löst die Aufgabe 7+7 spontan und muss bei 8+7 lange überlegen
  • verzählt sich bei Zehner- und Hunderterübergängen
  • löst Aufgaben mit Übergängen meist falsch
  • vertauscht die Zahlen bei Minusaufgaben
  • verdreht die Zehner und Einer einer Zahl
  • erkennt ganz offensichtlich falsche Lösungen nicht
  • hat Schwierigkeiten mit der Null als Zahl und Ziffer
  • zählt bei 1x1-Reihen immer wieder von unten hoch
  • produziert "Traumergebnisse"
  • "hasst" Sachaufgaben
  • kann nicht mit Größen (Strecken, Zeiten, Gewicht) umgehen
  • kann nicht mit Geld umgehen, rechnen
  • lernt partout die Uhrzeit nicht
  • will immer nur untereinander rechnen, nicht im Kopf
  • kann keine Probeaufgabe bilden
  • kann keine Ergebnisse abschätzen (Überschlag)

Hausaufgaben und Üben / Verhaltens- und psychische Auffälligkeiten

Hausaufgaben und Üben

Die folgenden Auffälligkeiten beziehen sich auf immer wiederkehrende Situationen und Verhaltensmuster beim zusätzlichen Üben und Erledigen der Hausaufgaben:

Das Kind

  • braucht ständig die Nähe eines Erwachsene
  • erledigt seine Hausaufgaben fast nie selbständig
  • weiß nicht, was es auf hat
  • fragt nach jeder kleinsten Rechnung, ob das auch richtig ist ("Stimmt das?")
  • benötigt für die Hausaufgaben sehr viel Zeit
  • rechnet "heimlich" mit den Fingern
  • scheint beim Rechnen nicht bei der Sache zu sein
  • starrt beim Rechnen aus dem Fenster, gegen die Decke oder wirkt geistesabwesend
  • vergisst tags darauf (besonders bei Tests) alles, was es vorher schon "konnte"
  • kann nicht ansatzweise seine Rechnung erklären
  • weiß nicht, was in der Schule gemacht wurde

Verhaltens- und psychische Auffälligkeiten

Die angeführten Punkte stellen lediglich einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem Katalog typischer Probleme teilleistungsschwacher Kinder dar:

Das Kind

  • klagt häufig über Bauch- und Kopfschmerzen
  • hat Angst vor dem Lehrer, vor Klassenarbeiten
  • hat generelle Schulangst
  • neigt zur Leistungsverweigerung
  • blockt ab
  • verhält sich aggressiv
  • spielt den Klassenkasper
  • wird gehänselt, hat keine Freunde mehr
  • zieht sich total zurück
  • weint häufig
  • hält sich für dumm
  • hat extreme Misserfolgsstimmungen (mutlos)

Symptomfragebogen für Schule und anderweitige Fachkräfte

Insbesondere von schulischer Seite aber auch von Beratungsstellen und Jugendämtern wurden wir in den letzten Jahren immer wieder dazu aufgefordert, Beurteilungshilfen in schriftlicher Form zu erstellen, um eine sich anbahnende oder bereits vorhandene Rechenschwäche möglichst frühzeitig zu erkennen. Die Entscheidung, einen Fragebogen zu entwerfen und weiterzugeben, ist uns nicht zuletzt deshalb so schwergefallen, da die Gefahr des Missbrauchs bzw. der möglichen Fehlinterpretation oder eines falschen Einsatzes nicht von der Hand zu weisen ist.
Es sei deshalb vorab nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen:

Der Symptomfragebogen ist kein Diagnostikum und ersetzt auch keine Diagnose!

Er ist ebenfalls in keiner Weise dazu geeignet, eine generelle Lernschwäche anzunehmen oder auch auszuschließen!

Auch wenn viele Symptome zutreffen mögen, muss dies noch lange nicht bedeuten, dass das Kind an einer Rechenschwäche leidet. Es verstärkt lediglich den Verdacht auf das Vorliegen einer Dyskalkulie.

In Zusammenarbeit mit den weiteren Zentren entstand ein Symptomfragebogen mit 52 bei rechenschwachen Schülern immer wieder auftauchenden Symptomen

Der Fragebogen kann bei Schülern von der ersten bis zur sechsten Klasse aller Schulformen angewandt werden. Die Items sind jeweils unterschiedlich nach der Häufigkeit ihres Auftretens gewichtet. Neben dem benannten Symptom ist angegeben, ab welcher Klasse/Halbjahr es auftreten kann.
Nachfolgend einige Beispiele:

FORTSETZUNG:

Mathematischer Bereich
ab Klasse 1/1: Das Kind rechnet fast alle Aufgaben zählend

  • fast immer
  • oft
  • gelegentlich
  • gar nicht
  • nicht bekannt

ab Klasse 1/1: Das Kind lehnt Minus-Aufgaben deutlich ab

  • fast immer
  • oft
  • gelegentlich
  • gar nicht
  • nicht bekannt

ab Klasse 1/2: Das Kind rechnet nicht mit Zehnerüberschreitungen

  • fast immer
  • oft
  • gelegentlich
  • gar nicht
  • nicht bekannt

Alltäglicher Bereich
ab Klasse 2/2: Das Kind kann die Uhr nicht lesen (Zeiger-Uhr)

  • fast immer
  • oft
  • gelegentlich
  • gar nicht
  • nicht bekannt

Lernverhalten
Das Kind vergisst ständig Sachen, die es tags zuvor noch konnte

  • fast immer
  • oft
  • gelegentlich
  • gar nicht
  • nicht bekannt

etc.

Der Fragebogen ist konzipiert für

  • staatliche Schulen
  • staatlich anerkannte Privatschulen
  • Kliniken
  • städtische oder staatlich anerkannte Beratungsstellen
  • ärzte
  • Heilpädagogen
  • Ergotherapeuten
  • Psychologische Praxen
  • Jugendämter

und kann von diesen Stellen vervielfältigt werden. Eine Vervielfältigung zu kommerziellen Zwecken ist auch in Auszügen ausdrücklich untersagt. Den vollständigen Fragebogen (mit Anleitung) finden Sie in unserem Buch Rechenschwäche/ Dyskalkulie, Symptome - Früherkennung - Förderung herausgegeben vom Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung.

Ausgewählte Symptome in der Sek I

Neben vielen Symptomen aus der Grundschulzeit, die in aller Regel nicht verschwinden (sich bestenfalls abschwächen), fällt bei den Kindern und Jugendlichen auf:

  • Das Kind kann sich keine Rechenvorteile verschaffen. Es versteht das Assoziativgesetz (Klammergesetz) nicht.
  • Das Umrechnen von Größeneinheiten fällt sehr schwer. Insbesondere dann, wenn Dezimalbrüche vorkommen (30g = ? kg) oder wenn es sich gar um zusammengesetzte Einheiten handelt (100km/h = ? M/s).
  • Das Rechnen mit Dezimalbrüchen klappt nur schematisch und in schriftlicher Form (auch bei einfachen Aufgabenstellungen). Insbesondere bei Stellenwertübergängen und beim Subtrahieren gibt es große Probleme, wenn im Kopf gerechnet werden soll (1,5 - 0,9 = ?).
  • Die Rangfolge und der Zusammenhang der Rechenarten bleibt meist völlig unklar (x2= 2x oder 3a + 2b = 5ab etc.). Zentrale Rechengesetze werden nicht beachtet (Punkt- vor Strichrechnung, es wird aus Summen gekürzt usw.).
  • Der Bruchzahlbegriff ist nicht entwickelt. Es kommt zu teilweise völlig unrealistischen Ergebnissen.
  • Das Rechnen mit ganzen Zahlen bleibt völlig unverstanden (beispielsweise werden Vor- und Rechenzeichen durcheinander geworfen, es kommt zu völlig unrealistischen Ergebnissen, die nicht bemerkt werden etc.). Rechengesetze aus der Punkt- und Strichrechnung werden "wild" miteinander kombiniert ("Aber minus und minus ist doch immer plus!").
  • Dreisätze, Prozent- und Zinsrechnung (generell alle Verhältnisgleichungen) bleiben ein Rätsel. Bestenfalls kommt es zu richtigen Lösungen, wenn ein Schema vorher stundenlang eingeübt wurde. Wechselt derAufgabentyp, geht oft gar nichts mehr. Nach der Klassenarbeit ist dann schnell alles restlos wieder vergessen.
  • Der Umgang mit Termen, die Variablen beinhalten (generell die gesamte Algebra) wird zur Katastrophe (hält sich das "Kind" numerisch mit Hilfe des Taschenrechners noch halbwegs über Wasser, ist spätestens hier das Ende der Fahnenstange erreicht). Nahezu alles wird mehr oder weniger willkürlich miteinander verrechnet.
  • Eines der zentralsten Rechengesetze, das Distributivgesetz (Verteilungsgesetz - a(b+c)=ab+ac) bleibt völlig unverstanden. Das Ausmultiplizieren mag rein schematisch noch funktionieren; der umgekehrte Weg (Ausklammern) ist dem "Kind" häufig ein Rätsel.
     
    Die große Schwester (Architekturstudentin) wird hinzugezogen: über ihre Übungsversuche berichtet sie:
    "Meine Versuche, mit meiner kleinen Schwester Hausaufgaben zu machen oder für eine Klassenarbeit zu lernen, endeten oft in tränenreichen Auseinandersetzungen. Ihre Erklärungen bezogen sich auf vorangegangene Aufgaben und enthielten Begründungen wie: "Aber gerade haben wir für x doch auch 5 eingesetzt." Starteten wir mit der nächsten Aufgabe vom selben Typ, begann die Raterei von neuem ohne dass sie überhaupt merkte, dass es sich um dasselbe Thema handelte. Hatten wir erst mit der eigentlichen Rechnung begonnen, plagte sie mich unter anderem mit Vorzeichenfehlern, Rechenfehlern und Verstößen gegen Punkt- vor Strichrechnung."
  • Das Lösen linearer Gleichungen gelingt dem Kind nur mit größten Schwierigkeiten, vielen Fehlern, manchmal auch gar nicht, weil
    1. es keine Kenntnis vom Zusammenhang der Rechenarten hat (ungleichnamige Terme werden zusammengefasst, der Platzhalter wird kurzer Hand mit einer völlig falschen Rechenart eliminiert etc.).
    2. es den Begriff und das Funktionsprinzip einer Gleichung nicht erfassen konnte. Es kennt nur Aufgaben der Form 17 + 28 = ? und rechnet beim Lösen von Gleichungen einfach über das Gleichheitszeichen hinweg ("Links ist die Aufgabe und rechts muss das Ergebnis hin!").
    3. vom neutralen Element der Rechenarten und dem Einsatz desselben beim Lösen von Gleichungen selbst ansatzweise nichts verstanden hat. Und so wie im nebenstehenden Beispiel kommt dann natürlich bei jeder Aufgabe immer für x=1 raus.

FORTSETZUNG:

Wir belassen es bei diesen ausgewählten Symptomen, denn jedem, der sich in der Mathematik einigermaßen auskennt, dürfte klar sein, dass hier irgendwann die Note Ungenügend ansteht - Taschenrechner hin oder her. Was die Kinder vor dieser Note noch retten kann, ist eine Geometrie-Klausur (vorausgesetzt, dass hier nicht gerechnet werden muss, also beispielsweise Dreieck-Konstruktionen, Inkreis- oder Umkreis-Konstruktionen etc.) und/oder mindestens ein zugedrücktes Auge der Lehrkraft.

Generell kann man sagen, dass der Verdacht auf eine Dyskalkulie dann aufkommen sollte, wenn das Kind von der Tendenz her trotz guten Willens, viel Übung und/oder auch Nachhilfe nicht von seiner Beton-Fünf kommt (Ausreisser nach oben und unten sind immer möglich).
"Da bereits nach der ersten Arbeit klar war, dass ich diese Schule nicht überleben würde, verschliss ich in den folgenden Jahren einige Nachhilfen, ohne auch nur irgendeinen Erfolg zu verbuchen. In der Zwischenzeit war ich im Übrigen auf einer Beton-6." (Aus einem Erfahrungsbericht einer rechenschwachen Gymnasiastin)

Uns wurde aus dem Sek I-Bereich noch kein einziger Dyskalkuliefall vorgestellt (die Schulform spielt hier keine Rolle), bei dem die qualitative Diagnostik (also jenseits von richtigen oder falschen Ergebnissen) keine teils erheblichen Defizite beim Schulstoff der zweiten Klasse aufgedeckt hat. So werden beispielsweise alle Grundlagen für das algebraische Rechnen in der zweiten Klasse gelegt. Glauben Sie nicht? Nehmen wir als einen Stellvertreter das Distributivgesetz: Kaum ein anderes Schulfach ist so konsequent nach einer strengen Hierachie aufgebaut wie die Mathematik. Deshalb ergeben sich die Symptome einer Rechenschwäche/Dyskalkulie aus dem Sek-I-Bereich notwendig aus denen der Grundschulzeit. Offen bleibt immer die Frage: Wann fallen die Kinder auf? Wann kommt es zur nahezu unvermeidlichen Katastrophe? Dies hängt von drei Faktoren ab: Dem Lernwillen der Kinder, ihrer Lernstärke und dem Aufwand an Übung (oder auch Nachhilfe), der meist sinnlos investiert wird. Deshalb gilt auch für die Sekundarstufe 1: Früherkennung ist einfach alles! Nicht abwarten, bis das Kind in der siebten oder achten Klasse dann völlig in den Brunnen gefallen ist. Bei Gymnasial-und Realschulkindern (aber auch bei Gesamtschülern) ist dies leider im MLZ immer noch der Regelfall.
 

Dyskalkulie - Der Begriff in der Wissenschaft

Es gibt mittlerweile mehrere wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit dem Phänomen einer Dyskalkulie (auch unter den Begriffen Rechenschwäche oder Arithmasthenie geführt) beschäftigen. Forschungen werden betrieben in den Bereichen:

  • der Neurologie
  • der Neuropsychologie
  • der Psychologie
  • der Pädagogik (Didaktik)
  • der Sonderpädagogik

Je nach Ansatz der einzelnen Disziplinen existieren mittlerweile unterschiedliche Theorien und Definitionen zum Thema Rechenschwäche (Dyskalkulie) sowie deren mögliche Ursachen. Während beispielsweise die Neuropsychologie von einem Teilleistungsstörungsmodell ausgeht, das bedingt ist durch einen Ausfall von vielfältig miteinander verknüpfter Basisfunktionen, hat sich in der Pädagogik und auch in der pädagogischen Psychologie, insbesondere aber in der Mathematik-Didaktik der Begriff einer Teilleistungsschwäche durchgesetzt (vgl. Remschmidt, Deutsches Ärzteblatt 88, 1991). Alle Ansätze haben für sich genommen sicherlich ihre Berechtigung. Zu einer übergreifenden einheitlichen Theorie sowie Definition des Phänomens ist es aber bis jetzt noch nicht gekommen.

Auch über die Ursachen einer Rechenschwäche herrscht zur Zeit weitgehend Unklarheit und Uneinigkeit. So geht LORENZ davon aus, dass einer Rechenschwäche unter anderem visuelle Wahrnehmungsstörungen zugrunde liegen könnten. PIAGET und KUTZER legen in ihren Beiträgen großen Wert auf die Entwicklung pränumerischer Fertigkeiten in der Vorschulzeit. Nicht unberücksichtigt muss auch das soziale Gefüge bleiben, in dem das Kind aufwächst, das ebenfalls eine Rolle bei der Entwicklung einer Rechenschwäche zu spielen scheint.

ELLROT formuliert seine Definition einer Rechenschwäche analog zur Legasthenie:

"Dyskalkulie ist die Bezeichnung für Schwächen beim Erlernen von ZahlenQuantitäten in Zahlen fassen) und Rechnen (operieren mit Zahlen), die weder auf eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung, noch auf unzulänglichen Unterricht zurückgeführt werden können."

Diese Definition einer Rechenschwäche (Dyskalkulie) deckt sich weitgehend mit der Beschreibung, wie sie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der ICD 10 (Internationale Klassifikation von Krankheiten und Entwicklungsstörungen) unter dem Punkt F 81.2 beschrieben hat:

"Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht alleine durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist."

FORTSETZUNG:

Beide Definitionen gehen von einer zumindest durchschnittlichen Intelligenz des Kindes aus. Diese Sichtweise erfährt unseres Erachtens vollkommen zu Recht Kritik sowohl aus der Schul- als auch der Therapiepraxis. Dies vor allem aus folgenden Gründen:

  • Zur Messung der allgemeinen geistigen Fähigkeiten des Kindes werden in aller Regel Intelligenztests angewandt. Es ist hier zu bedenken, dass diese Tests häufig nicht unwesentlich streuen. Zudem spielt die Tagesform des Kindes eine Rolle. Auch ist zu bedenken, dass rechenschwache Kinder aufgrund zum Teil jahrelanger Versagenerlebnisse in Prüfungs- und Testsituationen mit starken Ängsten reagieren. Dies kann ein Testergebnis deutlich verzerren. Problematisch bei vielen häufig angewandten IQ-Tests ist zudem, dass eine wesentliche Unterabteilung wiederum Rechnen, Zahlen, Zahlengefühl und routinierten Umgang mit Quantitäten und Zahlenfolgen (siehe z. B. Zahlenfolgen-Test des CFT 20) verlangt - was rechenschwache Kinder ja bekanntlicherweise nicht leisten können - jetzt aber als Ausweis von Intelligenz gefragt ist.
  • Auch was den Begriff der 'Intelligenz' selbst anbetrifft, herrscht immer noch Unklarheit darüber, wie dieser überhaupt zu definieren ist. Die Messung eines IQs mit entsprechenden Testverfahren werden heute kritischer betrachtet; insbesondere der IQ-Test als diagnostisches Instrument zur Feststellung der Förderwürdig- bzw. -bedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen wird stark in Zweifel gezogen, und dies zum Teil von den Autoren der entsprechenden Verfahren selbst!

    "Es wird nicht mehr angezweifelt, dass der Intelligenztest bestenfalls einen intellektuellen Status registriert, dass solche "Daten" mit Fehlern behaftet sind, nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Gegebenheiten entsprechen, die man letztlich nicht einmal definieren kann (Intelligenz), über die Beeinträchtigungen bedingenden Faktoren nichts ausgesagt wird. Ein Intelligenzquotient ergibt ferner kaum Informationen über die zukünftige Lernfähigkeit eines Menschen."
    (Aus: K. Bundschuh - Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik)

    "Diese prinzipielle Mehrdeutigkeit des Wechsler-IQs läßt es nicht angeraten erscheinen, den IQ zur Grundlage von therapeutischen oder pädagogischen Empfehlungen und Maßnahmen zu machen."

    ...

    "Zusätzlich muß berücksichtigt werden, dass ein niedriges Testergebnis keinesfalls bedeutet, dass der Proband unintelligent ist, ein gutes Testergebnis jedoch nicht von unintelligenten Personen erzielt werden kann. Aufgrund eines Testergebnisses im HAWIK-R oder irgendeines anderen Intelligenztests kann nie die Feststellung abgesichert werden, dass ein Kind sonderschulbedürftig ist."
    (Aus: Titze, Tewes - Messung der Intelligenz bei Kindern mit dem HAWIK-R)

  • Insbesondere von sonderpädagogischer Seite wird häufig darauf verwiesen, dass es bei allgemein lernschwachen Kindern einen signifikanten Unterschied zwischen den mathematischen und den sonstigen Leistungen des Kindes gibt. Da diese Kinder in aller Regel durch das "Intelligenz-Raster" fallen oder bereits gefallen sind, kann nach den beiden oben ausgeführten Definitionen keine Rechenschwäche diagnostiziert werden, obwohl die Kinder eindeutig rechenschwach sind! Als Folge werden therapeutische Maßnahmen bei diesen Kindern völlig zu Unrecht nur selten unterstützt und für wenig hilfreich erachtet (unsere Erfahrungen fallen deutlich anders aus). Eine solche Ausgrenzung halten wir für den falschen Weg.
  • "Der Vergleich mit den Leistungen in anderen Fächern ist unzureichend. Eine Dyskalkulie hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Zudem zeitigt jahrelanger Mißerfolg in einem solch zentralen Fach fächerübergreifende Auswirkungen. Die Pädagogik spricht vom "Teufelskreis Lernstörung": die Kinder beginnen, sich an ihrem (über die Jahre anhaltenden) Mißerfolg zu orientieren. Dieser greift auf die anderen Fächer über. Schulunlust, Schulangst sind nicht selten die Konsequenzen. Die üblichen Mittel und Möglichkeiten von Schule und Unterricht versagen nun notwendig."
    (Alexander v. Schwerin - Leitung des Instituts zur Behandlung der Rechenschwäche in München.

Die Zahl der Autoren, die sich mit dem Problem der Rechenschwäche beschäftigt haben, hat in de letzten Jahren zugenommen. So geht LORENZ (1990/91) davon aus,

"dass mindestens 15% eines Schülerjahrganges Minderleistungen im Rechnen aufweisen, die durch den erteilten Unterricht nicht aufgefangen werden können."
Demnach also rechenschwach sind! Er führt weiter aus: "Dabei handelt es sich auf keinen Fall um Schülerinnen und Schüler, denen man eine Dyskalkulie bescheinigen könnte." Also keine Rechenschwäche haben! Dieser scheinbar offensichtlich auf der Hand liegende Widerspruch löst sich wiederum in der Schwierigkeit der Definitionsfrage, was nun eine Rechenschwäche bzw. Dyskalkulie ist, auf. Angesichts dieser Debatte verfiel man in puncto Dyskalkulie nicht in die Fehler der damaligen Legastheniediskussion und verlor Zeit mit umfangreichen, teils ergebnislosen Theoriedebatten und Fragen zur Terminologie. Daher wurde im deutschsprachigen Raum "das Definitionsproblem zurückgestellt und hat der mathematikdidaktischen Frage nach a) den Ursachen der Rechenschwäche uns b) den Möglichkeiten ihrer Erkennung und Behebung Platz gemacht. Das heißt, es werden alle Schüler einbezogen, die einer Förderung jenseits des Standardunterrichts bedürfen." (Lorenz 1991)

Womit wir wieder am Anfang aller Überlegungen sind: "Was ist nun Rechenschwäche? Es gibt bis heute keine allgemein gültige Definition. Um auch Schülerinnen jenseits des Standards mit einzubeziehen, soll nicht eine arithmetische Minderleistung bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz, sondern eine relative Minderleistung auf jeder Intelligenzstufe angenommen werden. Also: Wer nicht rechnen kann, ist rechenschwach."(Learn-line-NRW)